Auf dieser Seite werden schrittweise Artikel bereitgestellt, die Radjo Monk aus verschiedenen Anlässen über befreundete Künstler bzw. deren Arbeit verfaßt hat.

 

 

 

INSZENERUNG DES ZUFALLS

Über Erwin Stache und seine kinetischen Objekte

 

Kinetische Objekte nennt Erwin Stache seine Arbeiten, die er längst auch integriert hat in seine Soloauftritte als Pianist. Das Klanglabor des Musikers bietet dem Zuhörer nicht nur ungewöhnliche Klangstrukturen, die in ihrer Charakteristik gelegentlich an Kompositionen von John Cage erinnern, dem hier geistige, nicht aber musika-lische Vorbildwirkung zugeschrieben werden soll.

In seinen Konzerten ist der Zuhörer auch immer ein Zuschauer: das Auge hört mit.

Die kinetischen Objekte sind Klangmaschinen, über die Erwin Stache sagt, ihre Tonerzeugung sei einleuchtend. Damit beschränkt sich der Künstler auf die mechanische Wirkungsweise seiner Objekte und gibt nicht preis, daß deren Tonerzeugung im Publikum zumeist Spannung, Irritation und Heiterkeit erzeugt.

 

Seine kinetischen Objekte und Instrumente, deren bildkünstlerische Aspekte

variieren und auch graphische Elemente einbeziehen, sind Resultate einer kontinuierlichen Auseinandersetzung sowohl mit seiner Erfinderlust als auch mit seiner persönlichen Existenz als Musiker.

Vielleicht kann man Erwin Stache einen Abenteurer im Dreieck von Physik - Musik -Elektroakustik nennen. Das würde sich mit seinen biografischen Koordinaten decken: 1960 in Schlema geboren, wuchs er in Leipzig auf und studierte dort Physik/Mathematik. Drei Jahre dauerte die Beschäftigung mit Zahlen und Figuren, dann wechselte er zur Musik.

 

Vielleicht war das eine Rückkehr zu den Wurzeln, schließlich hatte er seit seinem 8. Lebensjahr eine Ausbildung im Fach Klavier genießen dürfen.

Erwin Stache spielte zunächst in verschiedenen Bands, entdeckte aber bald einen Erfahrungsraum, der halbwegs frei war von Retundanz: die Leipziger Jazzszene, in der er in den achtziger Jahre zu einer festen Größe wurde.

In diesem offenen Umfeld waren Experimente und genreübergreifende Aktionen mit bildenden Künstlern oder Dichtern noch keine Frischhaltefolien für postmoderne Klischees, sondern formten sich als Ausdruck der Selbstbehauptung und als urbane Reaktionen auf kultur-politische Gängelung.  

 

Mit seinem Umzug im Jahre 86 nach Beucha, ein Dorf bei Leipzig, wurde Erwin Staches eigener Weg sichtbar, der allmählich herausführte aus dem Gewirr der "Szene"-Trampelpfade. In dieser Zeit begann er, seinen Ideen von klangerzeugenden Objekten Gestalt zu verleihen.   

Diesen Objekten Sinndeutungen beizugeben, sie mit philosophischen Fragen zu spicken oder mit Theorien zu watterien, überläßt er der Assoziationslust des Betrachters.

Faszinierend sind seine Musikapparaturen durch eine augenfällige und eigenwillige Kombination aus Fragilem und Brachialem.

Daß der Betrachter Materialien wiedererkennen mag, die er schon mal in einem Baumarkt gesehen hat, oder Teile aus Geräten, die er selbst schon vor Jahren aus seinem Haushalt ausrangierte, ist ein nicht unwesentlicher Nebeneffekt, der eine sonderbare Intimität zwischen Objekt und Betrachter entstehen lassen kann.

 

Staches Sinn für das Paradoxe findet seinen Niederschlag in den Erfindungen und in der Art, wie er sie zueinander ins Verhältnis setzt, das heißt komponiert.

Aber gerade weil die Wirkungsweise seiner "Mitspieler" durchschaubar ist, erweist sich die maschinelle Inszenierung als eine hermetische Welt, in der sich im Gesamtzusammenhang der einzelnen Stücke nichts wiederholt. Und das, obwohl der zeitliche Ablauf von Aktion/Pause bei jedem Klangobjekt unverändert bleibt.

Zusammengehalten wird diese Inszenierung durch den schöpferischen Geist des Zufalls, der sich auf alogische Art einstellt.

Eigentlich unnötig, eine Evolutionstheorie zu bemühen, um hinter den Trick zu kommen: nichts ist so sicher wie der Zufall. Erwin Stache hat nicht mehr und nicht weniger getan, als diese Konstante für Diskontinuität bewußt in seine Schöpfungen einzubeziehn.

 

Unter den Forschern ein Komödiant, unter den Komödianten ein Forscher - so könnte man den Künstler auch sehen.

 

Obwohl Erwin Stache selbst weder Anleihen gemacht noch Bezüge inner-halb der Moderne gesucht hat, wirken manche Objekte wie Variationen der berüchtigten "Hochzeit von Regenschirm und Nähmaschine" vor dem surrealen Traualtar.

Staches originäres Selbstverständnis schließt Epigonentum aus.

Die Originalität seiner Arbeiten ist eine Folge seiner Fähigkeit, komplizierte

Dinge und Zusammenhänge zu durchschauen, indem er sie in einen von ihm gestalteten Sinnkomplex stellt, der das lähmende ES IST zu einem aktivierenden ES KANN SEIN werden läßt.

Im Grunde unterhaltsam, animieren die Objekte doch zum Nachdenken über die Vorzüge der Enthaltsamkeit in einer Gesellschaft, deren facettenreiche Uniformität es fast geschafft hat, anstelle des Wortes 'menschenfreundlich' das Konstrukt 'verbraucherfreundlich' zu etablieren.

 

Staches Ideen transformieren stupide mechanische Gesetze in die Dimension des Heiteren. Die aus ihrem früheren Gebrauchskontex herausgelösten und zu Klangkörpern zusammengebauten Materialien folgen einer Funktionalität, die sich weit entfernt hat vom ursprünglichen Verwendungszweck, und doch zum Ursprünglichen zurückführen, nämlich in den Akt der Erfindung oder, wenn man so will, zum Genius der Schöpfung.

 

Wenn sich drei Zeiger in einem Rahmen aus einfachen Holzleisten mal in Uhrzeigerrichtung, mal gegen diesen drehen, dabei einander ins Gehege kommen und plötzlich stoppen, kann sich dahinter eine Einladung zum Gedankenspiel verbergen: vielleicht repräsentieren die drei Zeiger den dreidimensionalen 

Wahrnehmungsraum, die ehernen Gesetze der Geometrie?

 

Die vierte Dimension, die Zeit, deren Verlauf wir für gewöhnlich als linear empfinden, darf sich in diesem Werk einmal auf jede Dimension einzelnen auswirken und Verwirrung stiften.

Möglicherweise symbolisieren die drei Zeiger auch Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft in rätselhafter Synchronizität, wer weiß.

 

Vielleicht ist das Uhrbild eher ein Urbild des menschliches Hanges zur Generalisierung seiner Erfahrungen, seiner Perspektive auf die Dinge.

Oder das monoton über schwarzen Bildgrund laufende Endlosband, welches sich über Umlenkrollen dreht und einmal weiß und einmal schwarz ist, so daß fortwährend konstruktivistische s/w-Figuren in langsam sich verschiebenden metrischen Mustern erkennbar werden... Reibt sich da nicht ein Gaukler hinter dem Rücken des Königs Vernunft die Hände vor Vergnügen?

 

Es ist eine martialische Provokation, wenn Erwin Stache in einer Welt der Fernbe-dienungen verweist auf das Sinnfällige, indem er beispielsweise kein Gehäuse um seine Objekte baut und damit dem Betrachter die Wirkungsweise seiner Erfindungen nicht verheimlicht.

Man kann darin eine Persiflage auf das Maschinenzeitalter sehen, oder auch nur verblüffend bizarre Produkte einer ebenso kindlichen wie anarchischen Phantasie.

Besucher in zahlreichen Galerien, in denen Staches Objekte in den letzten Jahren zu sehen, zu hören und zu erleben waren, konnten die Erfahrung machen, daß sich die Ästhetik des scheinbar funktionslos Funktionierenden umso nachhaltiger erschließt, wenn sie der Aufforderung des Künstlers nachgekommen sind und die Klangkörper selbst über ein Fußpedal bedienten.

Letzter spektakulärer " Einsatzort" dieser Objekte war eine alte, noch nicht renovierte Siemens- Werkhalle im Leipziger Stadtteil Stötteritz im Oktober 93, in der unter der Ägide des Komponisten Steffen Schleiermacher Werke von Stockhausen, Cage und Stache aufgeführt wurden.

 

Nicht selten sind Erfindungen die Folge des Versuchs, einen bestimmten Mangel zu beheben. In Erwin Staches Fall sind die Objekte auch Substitute für ein fehlendes Orchester, für fehlende Mitspieler. 

Das Sch'mah, das Erwin Stache seinen golemartigen Begleitern unter die Zungen legt, heißt Elektriziät. Die Aktionen, die damit in Gang gesetzt werden, bleiben über Pedale und Schalter stets mit ihm verbunden, dem Mann am Flügel.

 

Diesen Aktionen sind bestimmte theatralische Grundmuster eigen; es ist also nur ein kleiner Schritt von der Konzertbühne zur Opernbühne, und den vollzieht Erwin Stache zur Zeit, indem er eine Kammeroper vorbereitet. Unter dem Titel "Die zehn Zweifel des Komponisten" wird das Werk im November 94 in Leipzig Premiere haben.

Diesem Schritt sind Auseinandersetzung mit bewegten Bildern vorausgegangen.

Während eines Aufenthaltes in New York sammelte Erwin Stache in der Stadt Bilder, die er nach kompositorischen Gesichtspunkten strukturierte und damit seinen ersten Film realisierte ("Einweg"). Die Bilder entsprechen Noten und bestimmen die Musik.

 

Eine umgekehrte Verfahrensweise wendet Erwin Stache in einer Video-Live-Performance an, die er mit dem Leipziger Künstler Christoph Bigalke auf die Bühne bringt und in der das unikate Spiel mit Bildern im Vordergrund steht ("Ein Sonntag in Plagwitz"). Beiden Arbeiten ist ein Resultat gemeinsam: das lustvolle Kippen von Kausalität.

 

 

Radjo Monk

Feldafing, April 1994

abgedruckt in "Topos- Inszenierte Raumerfahrung" (dt./engl) Katalog zur Ausstellung im Grassimuseum Leipzig 6.Mai-27.6.1993, Herausgegeben vom Kulturamt Leipzig

 

 

SCHMALE PFADE

ANMERKUNGEN ZUR ARBEIT VON ULRICH POLSTER

 

Nähe und Distanz, Meditation und Analyse – das sind zwei Gegensatzpaare, die mir spontan einfallen, wenn ich darüber nachdenke, was mich an Ulrich Polsters künstlerischer Arbeit fasziniert.

Erzählstränge werden gebrochen und markieren philosophisches Terrain. Tempi werden überraschend gewechselt und assoziieren kompositorische Strategien. Und die dem dokumentarischen Element stets verbundene Ebene bewegter Bilder wird angehalten zugunsten eines poetischen Schwebezustandes.

 

Rückblickend zum Beginn der achtziger Jahre, als ich Ulrich Polster in der Stadt unserer gemeinsamen Herkunft kennenlernte, ergibt sich der Eindruck einer dem Authentischen verpflichteten Kontinuität, eine Treue zum ursprünglichen Impuls: Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, nach den Wechselwirkungen zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung. Zugegeben, das klingt nach einem Allgemeinplatz, aber Ulrich Polster behandelt diese Fragen von Beginn an in einer Art fortgesetzten Prüfung, indem er sich selbst diesen Fragen aussetzt, Experimentator und Versuchsobjekt in einem.

Und da Ulrich Polster für seine Arbeit zunächst das (Massen-) Medium Fotografie verwendete, lieferte er sich schon am Beginn seiner Arbeit der Moderne aus, der man sich zu diesem Zeitpunkt in der DDR noch leicht verweigern konnte. Ein Umstand, der eng mit der erwähnten Kontinuität zu tun hat, aber auch mit der Fähigkeit der Selbstbehauptung und der Kraft, aus einem Scheitern das Kapital der Erfahrung zu filtern.

Als ich 1990 in Karl-Marx-Stadt eine Fotoausstellung von Ulrich Polster mit einer Lesung von Gedichten eröffnete, war diese seine Bereitschaft zur Hingabe an die neuen Technologien der Kommunikation und der künstlerischen Äußerung bereits ausformuliert. Dabei ist es ihm nie um Abbilder von der Welt gegangen, sondern um all jene Fragen, die sich rings um die technischen Bedingungen eines Bildes aufbauen.

Er ist ein Beobachter, dem die genaue Erfassung von Fragen wichtiger ist als ihre Beantwortung. Und damit steht er mitten im kabbalistischen Prinzip, das besagt, daß alles, was geschieht, dem gesamten Kosmos geschieht. Von hier wäre es ein leichter Sprung zum Medienphilosophen Vilém Flusser und Spannungsfeldern, die Ulrich Polster in seiner Arbeit stets mitdenkt; aber ich will mich auf das konzentrieren, was mich im Grunde berührt, weil es Teil meiner eigenen Geschichte, Teil meiner Arbeit ist.

Die Bildsprache Ulrich Polsters weckt in mir Erinnerungen an die inzwischen versunkene Welt, in der wir in Hainichen lebten: Das sich langsam vor-und zurück bewegende Paar in „La vie“ beispielsweise beschreibt für mich die seelische Intensität, die sich bei gemeinsamen Wanderungen mit anderen Freunden einstellte.

Ziel dieser Wanderungen war meist ein einsam stehender Gasthof im Wald, wo wir unter alten Kastanien saßen und einander im Gesprächsfluß spiegelten.

Um in diesem Abseits anzukommen, liefen wir einen schmalen Pfad durch ein Tal am Flüßchen namens Striegis entlang. Der Pfad war zu schmal, um nebeneinander gehen zu können.

Aus der Distanz der Jahre scheint mir dieser Umstand symbolische Kraft zu gewinnen: Wir gingen den Weg gemeinsam, und doch war jeder mit sich allein. Einkehr in das Schweigen als Gesprächsgrund, Idylle als Folie zur Beschreibung einer als durchaus ungemütlich empfundenen Welt. Wir diskutierten nicht aus der Vogelperspektive über Probleme, sondern in ihren Bindungen, aus denen heraus wir uns allmählich ent-wickelten.

Die Gegensatzpaare Nähe und Distanz, Meditation und Analyse haben, wie man sieht, tiefe Wurzeln. Und sie speisen eine Bildwelt, deren innere Brüchigkeit das Denken voran treiben und es für Alternativen offen hält. Dies ist wohl auch die bestechendste Charakteristik an der Arbeit Ulrich Polsters: Es gibt keine Verkapselung in Finalität. Das mag auf paradoxe Art überraschen, wenn man die Konstruktion von Videofilmen wie „Fragment IV“ anschaut, die im hohen Abstraktionsgrad modellhaft existentielle Situationen durchspielen; es überrascht nicht mehr, wenn man hinter der Konstruktion die Parabel entdeckt. Dann tritt ein Erzähler in den Vordergrund, der zu schweigen weiß. Und zwar auf eine Art zu schweigen, daß man als Gegenüber plötzlich sein eigenes Denken zu hören beginnt.

 

Radjo Monk

Saarbrücken am 18.1.2004

 

GESPIEGELTE ZUKUNFT: Helmut Lemke in Sehlis

 

Helmut Lemke hat im Dorf Sehlis ein Projekt realisiert, dessen Herz das Blut der Moderne zirkulieren lässt, und zwar ganz unbeeindruckt von diversen Klischees, die sofort im Raum stehen, wenn die Begriffe Dorf und Künstler aufeinanderfolgen. Klischee Nr. 1: Künstler ziehen sich gern in ländliche Idyllen zurück, um in Ruhe arbeiten zu können. Klischee Nr. 2: Künstler leben gern am Rande eines Dorfes, abgeschieden von der Gemeinschaft und im übrigen weltfremd.

 

In diesem Fall liegen die Dinge anders, da sie sich wiederfinden unter einem Bewusstseinshorizont, der die Gegenwart aus der Zukunft spiegelt. Es ist eine Art Zeitreise, die Helmut Lemke unternimmt: die Folgen gegenwärtiger Fehlleistungen auf sozialer, politischer, wirtschaftlicher, technologischer und ökologischer Ebene in die Zukunft projiziert, lassen den Zeitreisenden täglich in die Gegenwart zurückkehren, wo er sich als Grundwerteverteidiger wiederfindet, der keine Zeit mehr für Spekulationen hat, auch nicht für’s Haareraufen; aber für das Ritual der jeden Samstag von Hand geläuteten Glocken der Dorfkirche - und für das Bier danach. „Ich kann keine Kunst machen ohne Menschen, für mich geht es ums Teilen“, sagt Helmut Lemke, und fügt an, dass für ihn das Dorf Modellcharakter bei der Bewältigung all der Probleme, die aus der Globalisierung entstehen, habe.

 

Dabei ist seine Kunst einfach und zugleich komplex, kommunikationsoffen und doch hermetisch, eine Sache des Alleinseins und gleichwohl abhängig von der Gemeinschaft.

Wenn er in der Landschaft sitzt und deren Hörbarkeit skizziert, wenn Orte der Klangaufnahme fotografisch dokumentiert werden, um deren Beschreibbarkeit zu stimulieren, dann folgt er künstlerischen Strategien, die er selbst über Jahrzehnte entwickelt und ausgetestet hat. Diese Erfahrungen auf eine soziale Interaktion anzuwenden und mit dem Dorf zu atmen: das ist auch für Helmut Lemke neu. Im Gespräch nennt er diese Konsequenz „radikal“.

 

Helmut Lemke hat mit seiner formal klar gegliederten Aufgabenstellung, aus der sich methodisch leicht nachvollziehbare Bezugsmuster ergeben, eine transparente Struktur in das Dorfleben gebracht, die sich sozial nachhaltig auswirken dürfte. Die Begegnung auf Augenhöhe zwischen Künstler und Ortsansässigen ist dafür Voraussetzung, den kostbaren Schatz der Gemeinsamkeit muss jeder in sich selbst entdecken.

 

Ansprüche und Erwartungshaltungen, die Künstler und Gesellschaft wechselseitig haben und verhandeln können, finden bei aller denkbaren Divergenz und Dynamik immer noch einige Übereinkünfte, die seit Jahrhunderten akzeptiert sind. Eine Übereinkunft besteht in der Annahme, dass Kunst der Gesellschaft zu dienen habe; eine andere darin, dass Kunst Zeitlosigkeit stiften könne, also eine Art Verfallsimprägnierung darstelle und, hierin prähistorischen Jagdzauber ähnlich, dem Besten einer Gesellschaft zu Dauer und Maßstäblichkeit verhelfe.

 

Gegen beide Prämissen hat Helmut Lemke nichts einzuwenden, im Gespräch mit ihm sind diese Fundamente seines Werkverständnisses schnell klar.

Und tatsächlich ist der Künstler traditionellen, ja archetypischen Mustern verpflichtet, nach denen er sein Schaffen ausrichtet, das weder auf den ersten noch auf den siebenten Blick den Eindruck macht, in Konventionen zu ankern.

 

Lemke kommt auf dem Weg der Begegnung mit Menschen in ihren sozialen Prozessen zu einer Kunstform, die aus diesen Begegnungen wächst. Insofern behauptet er nichts, sondern gewinnt utopisches Potential aus dem Interaktionsfeld, auf das er sich mit den Einwohnern von Sehlis begeben hat. Die Behauptung mag erstaunen, dass dies in ähnlich existentieller Weise geschehen ist wie im Projekt „Über den Hörwert IX“, bei dem der Künstler über drei Jahre den Klang von Landschaften erforscht hat, die nahezu frei von menschlichen Spuren sind: „Eine Tonaufnahme kann nur ansatzweise den Klang einer Situation wiedergeben, also habe ich diesen Klang zu mindestens gleichen Teilen mit anderen Medien gesammelt und archiviert. Dazu gehören Zeichnung, Fotografie und das geschrieben Wort.“1

In der Gemeinschaft zu sein, bedeutet auch den täglichen Klangraum miteinander zu teilen. Jeder hört diesen Raum anders, jeder ist auf seine Weise Teil von ihm als resonanter Körper.

 

Klang stiftet Identität, Klang rhythmisiert die Zeit und wappnet uns gegen die Ängste, die in uns aufsteigen angesichts des Todes, von dem wir ungefähr so wenig wissen wie vom biochemischen Prozess, der in einer Libelle abläuft, wenn sie in ihrem rasanten Flug plötzlich innehält und sirrend vor unserem Auge in der Luft steht: wir können die Libelle betrachten, ihre durchsichtigen Flügel, den vibrierenden Leib, sogar die knopfartigen Augen, aber wir wissen nicht, was sie von uns wahrnimmt.

Wenn wir uns darüber verständigen, was wir sehen, was wir hören, oder eben auch nicht, schaffen wir uns einen medialen Raum, in dem wir uns begegnen können. Und Begegnungen rüsten für Reisen, die bevorstehen.

 

Helmut Lemke lehrt mit seinem Projekt, methodisch kreativ zu werden – in einem konkreten Sinne organisch: sozial, philosophisch und in Summa menschlich.

 

Radjo Monk, September 2013

1 Helmut Lemke, Über den Hörwert IX, S. 51

 

 

IM ZWIELICHT DER ZEIT

Thomas Böhme „Calwer Sinclairiaden“

Calwer Hermann-Hesse-Stiftung

Sonderdruck der Sparkasse Pforzheim-Calw 2015, 48 Seiten

 

 

Im letzten Jahr wurde der Leipziger Dichter Thomas Böhme von der Hermann-Hesse-Stiftung als Stipendiat in die Geburtsstadt des weltläufigen Geistes eingeladen und hatte drei Monate Zeit, sich im schwäbischen Kulturraum umzuschauen. Der Rezensent, selbst vertraut mit der Gegend zwischen Freudenstadt und Stuttgart, bekam das schmale Bändchen druckfrisch in die Hand und hat es in den ersten Frühlingstagen gelesen, die Leipzig nach einer Periode grauer und von Nachtfrösten ausgekühlter Wochen erlebte.

 

Ein durchsonnter Aufbruch in einer Jahreszeit, die doch eigentlich der Heimkehr und Einkehr vorbehalten ist, gleich zu Beginn des Textes von Klinschors Farben überstrahlt, ein Steiflicht überm Tessin; und dann das beschauliche Calw im Tal der Nagold, die Tauben auf dem Dach des Hesse-Hauses, in dem Thomas Böhme zu Gast ist und sich mit Katzen, Anwohnern und Erinnerungen anfreundet und den Leser teilhaben läst an seinem Erleben, das er im freundlichen Grundton skizziert.

 

Er wandert wachen Auges durch die Flur, besucht Städte im Umland, (Horb, Hechingen, Cannstadt, Tübingen etc.) erkundet per Nahverkehr Calwer Bezüge und gewinnt so „Momente des Glücks, Momente der Verzagtheit …“, die den Text von vornherein ins weiträumige Abseits feuilletonistischer Betrachtung und näher an das dichterische Werk Böhmes stellen. „Ich war ja nicht hergekommen, um der Stadt ein paar Artigkeiten ins Poesiealbum zu kritzeln“, konstatiert Böhme in Betrachtung der „Fetzchen & Fusseln“,

als die ihm seine Aufzeichnungen zunächst erscheinen. Doch in Vertrauen in das Wort, das der Sinnfälligkeit unserer Welt Beine zu machen weiß, perforiert der Stipendiat sowohl die biographische Landkarte Hesses als auch jene der schwäbischen Literaturgeschichte, die auf erhellende Weise kollidiert mit Böhmes eigener Lesart, die im Textverlauf immer klarer konturiert erscheint und vom eingangs konstruierten Identitätsspiel („nenne ich vorderhand meine Aufzeichnungen nach dem vorgeblichen Autor des DemianSinclairiaden“) nichts übrig lässt.

 

Hesses „Glasperlenspiel“ mit Orwells „Schöne neue Welt“ zu vergleichen oder auch Hesses frühe Erzählung „Unterm Rad“ mit jener „Im Kloster“ aus der Feder von Friedrich Georg Jünger, von dem der Antiquariatsfreund Böhme in Herrenberg ein Werk erstöbert, mag zunächst ein wenig unbekümmert wirken, gehört aber zur Methode dieser geglückten Form von Regionalkunde. Denn der Autor lässt nicht einer Unbekümmertheit die Zügel, die sich gefällig ins Erscheinungsspiel der Oberflächen fügt. Nein, diese Sorte Unbekümmertheit soll wohl nur Ablenken vom eigentlichen Beharren des Dichters auf die Zwielichtigkeit der Zeit, deren fortwährender Zerfall in „es ist“ und „es war“ dem Entdecker das Schrittmaß vorgibt: nicht schnell genug, um der Flüchtigkeit anheim zu fallen, doch nicht zu zögerlich, Bleibendes auch bleiben lassen zu können.

 

In diesem Zwielicht schärft sich der Blick, man atmet tiefer. Die Impressionen des Flaneurs kreuzen die Assoziationen des Waldgängers und erzeugen schwebende Denkfiguren, die im poetischen Gegenlicht flimmern, am eindrucksvollsten und besonders gelungen im „Zwischenspiel 4: Die Schere im Wald“, ein elegant vor dem kulturpessimistischen Essayteppich Ernst Jüngers gezogenes Florett.

 

Namen und Daten gehen gleichfalls über Kreuz, bleiben aber frei von Faktenhuberei und komplettieren das im Zwielicht entdeckte. Eindrücke wie der vom Besuch des Literaturarchivs in Marbach erscheinen als Scherenschnitte, fügen sich aber in das Eindrucksmuster, das dieser Text zu einem leicht tragbaren Stoff verwebt, gewonnen aus schwerem deutschen Dichterleinen, feinste Fasern neu versponnen.

 

Radjo Monk

Leipzig, 10.4.2015

 

 

ZUM LYRIKBAND SCHIEFE MENHIRE VON UDO GRASHOFF

Zwischen historischer Pose und poetischem Kommentar: Udo Grashoffs Gedichte sind ein Echolot im kollektiven Gedächtnis Deutschland Ost, erschienen im Verlagshaus Berlin 2015

 

Udo Grashoffs neuer Gedichtband „Schiefe Menhire“ schlägt einen tiefen Ton an, der mal aus der Ferne zu kommen scheint, mal vorbeihuscht, immer präsent, aber schwer zu orten. Der Dichter, einst Sänger und Texter der Punkband Die (Z)brochenen Igel, ist nicht von ungefähr Diplombiochemiker und promovierter Historiker, beiden Professionen eignet objektivierende Beobachtung.

 

Im Gedicht „Alte Harzstraße“ kommt der Autor in eine Gegend, die seine Heimat sein könnte, aber er „weiß gar nicht/bin ich vor/oder hinter dem Wald“. Er bemerkt „einzelne schiefe Menhire/Traktoren pflügen vorsichtig drum herum/die Kette der Ahnen bricht ab/auf der Frontscheibe staubige Erde/Scheibenwischerflüssigkeit“.

 

Der Band ist in sieben Kapitel gegliedert, dem jeweils eine Illustration von Stefanie Hübner vorangestellt ist, deren präziser Strich das Surreale der hybriden Wesen verstärkt und sich atmosphärisch gut verträgt mit dem ironisch getönten Gestus irritierter Befremdung, der sich durch die Gedichte zieht.

 

Grashoff ist ein präziser Beobachter, aber es geht ihm wohl oft ähnlich wie dem Bundesadler am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, der nicht nur ein Symboltier darstellt, sondern auch als Blitzableiter fungiert: „sein Auge bleibt still/ wenn der Schlag, den er anlockt/zu Boden rast/steht er da, versteinert/ jedes Mal neu“.

 

Geschichte ist in allen Gedichten präsent, egal ob jüngere, fernere, diskutierte, verdrängte, vergessene oder nur propagierte. Aber Geschichte wird nicht vorgeführt oder zitiert, Grashoff behandelt sie als Versatzstoff und mischt sie mit Fragmenten alltäglicher Beobachtungen zu luziden Formen. Man gewinnt während der Lektüre den Eindruck, als seien nicht wir es, die sich Geschichte aneignen, sondern als habe die Geschichte sich uns angeeignet – Grashoff spürt es nur öfter, wohl auch eindringlicher.

 

Es gehört zu Grashoffs poetischer Methode, die Spannung, die sich durch Verschränkung einzelner Segmente bzw. Bilder ergibt, in Pointen aufzulösen. Wie ihm das bei gleichzeitiger Ausbremsung sich im Lektüreverlauf eventuell einschleichender Erwartungen gelingt, ist immer wieder überraschend und hat etwas mit der geschickt gehaltenen Balance aus lakonischer Distanz zum verhandelten Stoff und blitzschlagartiger Einsicht in die Rolle des Operateurs als teilhabendes Subjekt zu tun.

 

Besonders deutlich wird das poetische Verfahren im Gedicht „Unter der Brücke durchatmen“. Hier donnert Geschichte zum Irrsinn verpreßt vorbei wie ein schwer beladener Güterzug, der den eigenen Aufschrei mitnimmt: „oben rast eine fixe Idee /durch die Menschheit hindurch“ während sich unten eine Kindheit fortsetzt im „Lauschen/an übereinander gelegten Beinen von Tanten/an Hosen von Onkels, die tönten: /Gisbert: es liegt am System“.

 

Mit dieser Methode fungiert die Pointe am Gedichtende gleichsam als Tor zu seinem erzählerischen Hinterhof, der im Textverlauf nur angedeutet war, und befeuert so die Assoziationslust des Lesers.

Zur poetischen Methode gehören Brüche in der Wahrnehmungsführung; Zeilenum-brüche und Interpunktion dienen der Navigation hin zum Sinnzentrum des Gedichtes, dessen narratives Gerüst durch diese Praxis jedoch immer wieder erschüttert wird.

Das Gedicht „Ausgleichsbewegung seitlich“ führt vor, wie nah Aufgabe und Lösung beieinander liegen können, gelegentlich zum Verrücktwerden ineinander verwachsen sind: „den Panzer mitschleppen/Rüstung, die verhindert/stark zu sein/rosa Fleisch/ diese Sehnsucht nach Platzwunde/Sesam öffne Dich/ jetzt vor eine Straßenbahn laufen/und glücklich sein“.

 

Irritationen erhöhen die Aufmerksamkeit, das Mysteriöse erscheint als subtile Prägung: “das war mein Orakel: auf einem bitteren, schwarzen Fluss/in ein hartes Plasteboot/wie ein Legomännchen fixiert/auf das Wasser einschlagen“ heißt es im Gedicht „Kanuslalom“.

 

Und ähnlich im Gedicht ohne Titel, das den Dichter „im Bundesarchiv“ zeigt, offenbar mit Recherchen beschäftigt. Der Autor vermutet, noch zu schlafen, beobachtet aber sehr genau: „zwischen mir und den Zeugenaussagen ist Luft/zwischen mir und den Menschen ist Luft/vielleicht ist es gar nicht mein Ding/zu erwachen, vielleicht bin ich/parallel“. Das parallele Sein ist aber kein eigenständiges Sein, obwohl die Fähigkeit zur bewussten Ortung dies zu suggerieren vermag. Ist hier das Gedicht am Ende eine Art psychoaktiver Link zu einer DDR-Biographie, deren Puls auch in der Gegenwart fühlbar bleibt? Und fühlt sich dieser Puls nicht an wie ein Gelebt-werden, eine Existenz vom Planungstisch jener Genossen, die sich zur Schaffung des neuen Menschen berufen meinten?

 

Möglicherweise überinterpretiert der Rezensent hier eine Diagnose, die der Autor mit dem Gedicht vorträgt („vielleicht bin ich/parallel“); aber dieses diagnostische Vorgehen läßt sich in vielen Gedichten bemerken und führt dazu, daß die einzelnen Gedichte ein unlesbares Wurzelnetz ausbilden. Ein Netz, in dem sich Zusammenhänge wechselseitig verstärken: Der Dichter ist als Historiker Analyst nicht nur seiner eigenen Erfahrung, sondern auch jener, die er nicht selbst gemacht hat, deren Prägekräfte ihn aber dennoch erreicht haben. Grashoffs Gedichte sind ein Tunnelsystem der Zeit, die Vergangenheit ist Teil der Gegenwart: ein morphisches Wortfeld, existentialistisch begriffen.

 

Ein Glossar hätte der Ästhetik des Bandes mit seinen hochfrequenten Bildern übrigens keinen Abbruch getan. Abkürzungen wie OvD oder POS lassen sich zwar problemlos googeln, Begriffe wie Winkelkanu auch, aber es bricht die Nähe zum Buch.

 

Radjo Monk, Juno 2015