AN DEN PONTISCHEN HÄNGEN VON LEBUS

 

Intermediales Zeitzeugenprojekt

von

Edith Tar und Radjo Monk

im 30. Jahr der Friedlichen Revolution

 

BStU-Außenstelle Leipzig

Dietrichring 24

 

Täglich zu besichtigen

10-18 Uhr

vom

3.10.2019 - 31.1.2020

 

 

 

 

Führung durch die Ausstellung

 

Die Ausstellung gliedert sich in vier Stationen, die sich aufeinander beziehen.

 

Station 1: Videoinstallation AN DEN PONTISCHEN HÄNGEN VON LEBUS

bestehend aus Monitor 1 mit Zeitzeugen sowie Monitor 2 mit Statements zum Projekt und Außenansichten zum Thema Friedliche Revolution 1989 und wie von Heute aus darauf geschaut werden kann.

 

Station 2: Installation "SCHLIESST EUCH AN!"

stellt eine wichtige Forderung vom Anfang der Montagsdemos in Leipzig in den Mittelpunkt: Schließt Euch an! Der Schritt vom Bordstein auf die Straße bedeutete die Verwandlung vom Passanten in einen Demonstranten. Für jeden einzelnen eine folgenschwere Entscheidung.

Das Bodentuch zeigt den Straßenbelag vor dem Eingang in dieses Haus, ein originales Stück Geschichte.

Die anhaltenden Buhrufe und Pfeifkonzerte, die hier jeden Montag im Herbst 89 zu hören waren, sind Teil der Hörstation.

 

Station 3: Fotoschau AUF EIN WUNDER KANN MAN NICHT SCHIESSEN

Edith Tar hat 32 Motive aus ihrem Fotoarchiv ausgesucht und meint dazu: die wichtigsten Fotos seien nicht dabei, denn die habe sich nicht gemacht, weil es in dem Moment jeweils zu gefährlich war, den Auslöser an der Kamera zu betätigen. Warum und wie: auch das ist im loop der Hörstation zu erfahren.

 

Station 4: Hörstation GESCHMACK DER WORTE

ist im doppelten Sinn des Wortes gesicherte Geschichte. Der Loop  bringt Interviewfragmente zu Gehör, die Radjo Monk zwischen 1989 und 2019 mit der Sozialen Plastik gemacht hat, verschnitten mit Originaltonauf-nahmen, die er in Leipzig im Herbst 89 aufgenommen hat, sowie einem Sample, der die interplanetarische Situation im Herbst 89 zitiert, wofür Jens Carstensen zu danken ist.

 

 

 

Radjo Monk, Rede zur Vernissage

 

Ich will kurz zusammenfassen, worum es uns in dieser Ausstellung geht, was uns angetrieben und umgetrieben hat, und dies in den letzten dreißig Jahren. Die Friedliche Revolution im Herbst 89 ist ein historisches Thema, unsere Herangehensweise aber ist eine künstlerische. Wir begeben uns also auf ein hinreissendes Konfliktfeld, wenn man nur die aktuellen Debatten unter Historikern aufruft.

 

Uns geht es um die Übertragung historischer Erfahrung in künstlerische Artikulationen, die quasi eine Metaebene erzeugen und einen Resonanzraum schafften, der eine Verhandlung verschiedener Positionen möglich macht. 

Die Krux: der Künstler genügt meist nicht den Ansprüchen des Historikers, während der Historiker für den Künstler oft wenig relevant ist.

 

Warum wagen wir uns auf historisches Terrain? Die Antwort ist simpel: es geht nicht anders; weil wir unsere Arbeit insgesamt als eine Art Zeitskulptur begreifen, in die sich unsere Erfahrungen einschreiben. Und mit jedem Handanlegen an diese Skulptur modifizieren sich diese Erfahrungen.

 

Wir befinden uns hier an einem Punkt in der Stadt, an dem zahllose Lebensfäden zusammenfließen, oft verknotet in Zersetzungsmaßnahmen und gewaltsam verdreht zu Fangstricken. Einige hier wissen, wie es sich anfühlt, sich in Fangstricken wiederzufinden, die eigentlich Teil der eigenen Biographie gewesen sind oder waren – hier wird die Zeitform diffus, die Konturen des Alltags verschwimmen, und plötzlich beginnen clandestine Möglichkeiten ein Lebensbild zu durchweben, das einmal klar und selbstbestimmt schien.

 

Biermann hat gewitzelt, die Stasi sei sein Eckermann gewesen. Wer Stasi-Verhöre erlebt hat, wer im Stasi-Knast einsitzen mußte, für den klingen solche Witzeleien bitter. Trotzdem bieten die Stasi-Akten die historisch bislang einmalige Gelegenheit, einem Geheimdienst den Stachel zu brechen, und sei es erst nach zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Ich selbst habe 1993 durch Akteneinsicht in einige Fragen Klarheit gewonnen. Ebenso ging es Gerd, nur war in seinem Fall der Prozeß der Gegenaufklärung viel langwieriger, es dauerte über zwanzig Jahre, bis er schließlich rehabilitiert wurde.

 

Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben, heißt es. Aus künstlerischer Sicht kommt das einer Flucht vor dem Feind gleich, denn Geschichte ist nie zu Ende, sie ist ein Prozeß, der jeden Tag neu geformt, gedacht, gedeutet, geschrieben, gesungen, gemalt und durchschwiegen werden kann.

 

Vielleicht liegt hier die Verbindung zwischen Kunst und Historie. Kunst kann Verlebendigen, was der Historiker abschließend zu betrachten sucht. Und wenn das Objekt der Betrachtung, wie in unserem Fall, Teil sowohl des Problems als auch der Lösung ist, Zeitzeugen genannt, dann kann es richtig spannend werden.

 

Ich hoffe und wünsche, daß sich Ihnen diese Spannung in der Ausstellung mitteilt, und Sie sich dialogisch, gedanklich und emotional einmischen in den Diskurs. Bleiben Sie sich bewußt, daß es ohne die sogenannte kleine Geschichte keine sogenannte große Geschichte gibt.

 

Wenn wir Teil des Ganzen sind, ist das Ganze immer auch Teil von uns. Dies war und ist seit 30 Jahren die pulsierende Intention des Kunstprojektes DER REVOLUTIONSTISCH - EINE SOZIALE PLASTIK. Eine Geschichte, die wir mit dieser Ausstellung weitergeschrieben haben.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit

 

 

 

 

Edith Tar, Rede zur Vernissage

 

Guten Abend und willkommen.

Viele werden sich fragen: Was ist das und wo sind die Pontischen Hänge von Lebus:

 

Die Pontischen Hänge befinden sich bei Lebus, ein paar Kilometer oberhalb von Frankfurt an der Oder.

Es handelt sich um grüne Sandhügel am Flußufer, man hat von da einen weiten Blick auf eine traumhaft schöne Landschaft.

 

Lebus hat dem Land westlich und östlich der Oder den Namen verliehen: Lebuser Land heißt es in Deutschland, in Polen ist es die Wojewodschaft Lebusch.

 

An den Pontischen Hängen von Lebus haben wir unser erstes Video mit den Freunden vom Revolutionstisch gedreht.

 

Warum dort? Wir wollten wegrücken von Leipzig und wir wollten nach Polen schauen. Ohne Polen hätten wir vielleicht in der DDR in den achtziger Jahren den Mut verloren. Zu diesem 1. Dreh haben wir polnische Freunde von Lebusch, dem Dorf auf der anderen Seite der Oder, eingeladen.

 

Wir hatten ein Picknick, haben uns bei Sekt ausgetauscht, Kunz hat uns das Lied von Paul Gerhardt „Geh aus mein Herz und suche Freud …“ gesungen, Marci hat gebetet, und Sylvia aus Slubice hat für uns getanzt.

Das könnt ihr im Video sehen.

Die anderen drei Segmente im Video handeln von Flucht, mißglückter Flucht, von Hierbleibenwollen.

Von Verfolgung auch, bis hin zur Verfolgung durch ein Torpedoboot auf der Ostsee, und vom glücklichem Entwischen.

Auch von Gefängnis bis hin zu einem Schauprozeß in den sechziger Jahren.

Von den Befindlichkeiten im Herbst ᾽89 auf dem Leipziger Ring.

Und davon wie sich das alles aus heutiger Perspektive anfühlt.

 

Die Protagonisten im Videofilm gehören zur „Sozialen Plastik, also zum Kunstwerk „Der Revolutionstisch“.

 

Wie kam es dazu?

Nach den Montagsdemos im Herbst ᾽89 haben wir uns – also Leute aus Leipzig/Marienbrunn und Freunde aus anderen Orten der DDR – immer in der „Marry“, der Tanzgaststätte Marienbrunn getroffen, nach und nach durften wir die Tische zusammenrücken.

Wir haben uns vergewissert, daß alle heil zurückgekommen sind, und uns dann auch gefeiert. Nicht verhaftet worden zu sein, war ja schon ein Etappensieg.

 

Als eines Abends nach dem 9. Oktober Peter abkassieren wollte und sagte, „so, jetzt ist Ausschankschluß“, rief Kunz verblüfft: „wieso, es gibt keinen Ausschankschluß, jetzt ist Revolution!“

Irgendwie war das der Moment, in dem bei uns der Groschen fiel.

 

So haben wir uns über Monate immer wieder am Tisch getroffen, auch in der Zeit, als nicht mehr gefährlich war, auf dem Leipziger Ring für freie Wahlen und Demokratie zu demonstrieren.

Als die „Tanzgaststätte Marienbrunn“ im Januar 1990 geschlossen wurde, der neue Geschäftsführer das Personal entließ, die Heizung im Winter abstellte und die Wasserleitungen platzen ließ, war mir klar, daß wir unseren Treffpunkt auf Dauer verlieren.

 

Also habe ich Tische und Stühle aus der Kneipe geholt und zu einer Installation arrangiert, die in Anlehnung an das Abendmahl von Leonardo Da Vinci aus einer Tafel mit dreizehn Stühlen besteht, das Ganze auf geätzte Bleche gestellt und von einer Zeltbahn umrahmt.

 

Es war ein spontan entstandenes Spiegelbild unserer fragilen, unsicheren und nach oben hin völlig offenen Situation, das den Namen „Der Revolutionstisch“ erhielt. Und es war zugleich ein Verweis auf die Rolle der evangelischen Kirche, denn ohne die  Montag für Montag gepredigte Friedfertigkeit, ohne den christlichen Puls, wäre diese Revolution vermutlich nicht friedlich verlaufen.

 

Die Nikolaikirche war ja der Hotspot, aber in diesen aufregenden Tagen, als alles auf Messer Schneide stand, öffneten weitere Kirchen in Leipzig das Tor, und alle waren voll mit Menschen, die nach dem Gottesdienst nicht nach Hause, sondern auf die Straße gingen.

 

Ich habe mich damals oft gefürchtet, wie viele Tausend andere ja auch, aber wir haben es auch genossen, es war eine Befreiung, wir haben Zoff gemacht gegen das Regime, und wir haben gesiegt, aus eigener Kraft.

„Und durch Gottes Gnade“, wie es Friedrich Magirius formulierte, als wir vor ziemlich genau zehn Jahren unseren Film „Der Revolutionstisch – Eine Soziale Plastik“ mit Friedrich und all den anderen gemacht haben.

Wir hatten uns dazu in der Halle 14 in der Spinnerei getroffen, wo der Revolutionstisch fragmentiert an Seilen von der Decke hing.

 

Aber noch einmal kurz zurück in das Jahr 1990, als wir mit hohen Erwartungen den ersten freien und geheimen Wahlen in der DDR entgegensahen und die Wiedervereinigung noch in den Sternen stand.

Auf die zur Tafel zusammengeschobenen Sprelacartische habe ich ein serielles Foto von der Demo gelegt und mit Plexiglas abgedeckt.

Im Frühjahr 1990 habe ich dann mein Atelier geöffnet und alle eingeladen, die in der „Marry“ an der Tafel gesessen hatten.

Ich wollte das Werk nicht alleine signieren, und so hat sich jeder mit seinem Namen auf den Plexiglasplatten in das Kunstwerk eingeschrieben.

In der Zeit habe ich mich mit dem Werk von Joseph Beuys befaßt, vor allem mit seinen Ideen rund um den Begriff der „Sozialen Plastik“.

 

Irgendwann begriff ich, daß es die Menschen sind, die dem Kunstwerk Sinn geben.

Einen Sinn, der in der Begegnung liegt, im menschlichen Gegenüber. Also Mitmenschlichkeit ganz im Sinne von Joseph Beuys, der den Begriff der „Sozialen Plastik“ in den künstlerischen Diskurs eingeführt hat.

So ist aus der Installation „Der Revolutionstisch“ etwas Anderes geworden als nur ein Symbol mit musealem Potential.

Und so wurde aus den Frauen und Männern, die einmal in der „Marry“ an der Tafel saßen, eine soziale Plastik, die sich je nach Anlaß neu formen und ausgestalten kann.

Ein offener Prozeß, der auch ohne die Installation „funktioniert“, spontan und ohne Jahrestage, zur Taufe, Hochzeit, mittlerweile auch Silberhochzeit, wir ja alle 30 Jahre älter geworden.

 

Wir bedanken uns an der Stelle ganz herzlich für die Mitwirkung am Video auf Monitor 2

Bei Dr. Susanne Baumgartl, die heute leider nicht Dabeisein kann, sie muß die Feierlichkeiten für den morgigen Tag in ihrer Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn vorbereiten

BeiProf. Dieter Daniels, der vor 15 Jahren den theoretischen Teil von Radjo Monks Diplomabschluß an der HGB begleitet hat und das heutige Thema seinen Studenten vermittelt

Bei Dr. Rainer Totzke, der als Philosoph und Zeitzeuge zu Wort kommt und in seinen Performances immer wieder Antworten auf nicht gestellte Fragen gibt

Und Bei Dr. Udo Grasshof, ebenfalls ein Zeitzeuge, der als Historiker in London lehrt und über seine geographische Distanz eine besondere Sicht auf Deutschland einbringt.

 

Und schlußendlich können wir uns bei uns selbst bedanken?

Ja. Also Dankeschön an alle, die am Film mitgewirkt haben und an alle anderen vom Revolutionstisch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Land Lebus

Für Ramona und Henri Adam

 

Das Land Lebus legt uns die Hände auf,

prüft die Tiefe unseres Schweigens,

unsere Wortmächtigkeit,

die Fließgeschwindigkeit

unseres Wissens

und ob unsere Leben

Quell und Mündung kennen.

 

Hier öffnen Steppengeister ihren Mund und

beatmen das pontische Licht, dem der Fluß

zum Ufer wird; und die baltische See ein Ruf

nach Zeugnis, daß Zeit und Ereignis Helden

sind, die uns nicht verloren geben,

und driften wir

noch so weit

davon

in

                                           Preislisten.

 

Lebus legt uns die Hand auf die Schulter,

Blicke treideln flußauf und flußab.

 

Oder schwemmt und taucht Wolken in

ihr Strömen, dem die Stimme der Eiszeit

eingeboren bleibt.

 

Hier öffnet das erwachte Wort

Augen.

 

Lebus mißt den Widerstand unserer

Gedanken in Gefallenen: Adonis erhebt

sich aus dem Staub der Daten, die Jagd

nach Ruhm und Glück ist beendet.

 

Lebus streckt die Hand aus, sammelt

Himmelsrichtungen und bündelt sie zu

Handelswegen, auf denen wir alle reisen,

Nachbarn und Gäste, Herkunft im Gepäck.

 

©Radjo Monk, 1.Mai 2019